Machen wir uns nichts vor, sehen wir genau hin. Nicht nur wegen der fast 30-jährigen Teilung ist Berlin ist eine kaputte Stadt. Inzwischen ist die Mauer weg, schon lange – ganz so, wie es sein muß. Und jedes einzelne Bröckchen davon ist weltweit vielfach verhökert worden. Ohne jeden Zweifel, der Fall der Mauer ist eine historische Erfolgsgeschichte. Geblieben sind Spuren, auf den Straßen, in den Menschen. Es bleiben immer Spuren.
Neulich erschreckte mich meine Hausverwaltung mit einem Schreiben, das alle Mieter dazu aufforderte, sich unverzüglich in den Keller zu begeben und die Tür des aktuell genutzten Kellerraumes gut lesbar mit dem eigenen Namen zu versehen. Alle nicht auf diese Art gekennzeichneten Keller würden anschließend aufgebrochen und entrümpelt. Selbstverständlich auf Kosten der derzeitigen Mieter.
Über Tonfall und Vorgehen von Berliner Hausverwaltungen mag man streiten. Ich ziehe es vor, solche Aufforderungen relativ ernst zu nehmen. Auch wenn sich eine rechtliche Grundlage nicht unbedingt erkennen läßt. So begab mich schleunigst in den Keller, den ich bislang nur flüchtig betreten hatte. Dabei handelt es sich um zwar einigermaßen trockene, aber auch ziemlich muffige Räumlichkeiten. Recht weitläufig, aber nicht besonders hell. Deshalb hatte ich bislang die Schrift auf den Wänden wohl auch noch nie gesehen.
Das Haus, in dem ich wohne, wurde laut Mietvertrag 1940 gebaut. In diesem Krieg also, kurz vor der großen Zerstörung. Und es steht noch, ist heute solide renoviert. Neuköllntypisch, das Treppenhaus ist alt und häßlich, die Fassade hingegen frisch gestrichen. Äußerlich sind also kaum noch Spuren zu sehen. Innen aber, unten, da ist alles noch präsent.
Dieser Keller war im Krieg also ein Schutzraum für 45 Personen. Ganz bestimmt haben aber mehr darin gehockt, 60 oder 100 vielleicht. Eng aneinandergedrängt, schweigend, dem Lärm, der Hitze und der Angst ausgesetzt. Jeder für sich, während der großen Bombenangriffe. Als ich Kind war habe ich Menschen davon erzählen hören. Meine Oma zum Beispiel. Da war das Erlebte noch ganz frisch, keine zwanzig Jahre her. Und im Ruhrgebiet war es sicher nicht so viel anders zu der Zeit. Nicht in der Kruppstadt.
Im Grunde ist das alles ja völlig normal. Ich zumindest bin an die Spuren der Vernichtung gewöhnt. Die Brüche und Lücken, die in den Straßen von Berlin immer noch Alltag sind. Die freigelegten Brandschutzmauern und die aufgerissenen Wohnblöcke. Die zerbombten Fassaden, die sich “im Osten” vereinzelt noch finden lassen.
Daß es Städte gibt, die keinen Krieg erlebt haben, erstaunt mich mitunter. Zürich, zum Beispiel. Die sprichwörtliche Schweizer Reinlichkeit ist dabei nicht das Thema. Im Vergleich zu Berlin ist Zürich ein Städtchen, und das bißchen Dreck ist sicher leicht zu bewältigen. Aber die unübersehbare Unversehrtheit der Straßen und Gassen. Die Architektur, die zum Teil seit Jahrhunderten beieinander steht. Das sieht man, das spürt man. Mit jedem Schritt, jedem Blick.
Eine Kultur, die ungebrochen daherkommt. Das ist seltsam, irgendwie.
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Zuerst erschienen im Hauptstadtblog, 7.9.08
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